(DAV). Personen mit Behinderungen, die eine heilpädagogische Einzelleistung beantragen, können laut einem Urteil diese erst nach einer interdisziplinären Diagnostik erhalten. Dies kann zu erheblichen Verzögerungen bei der Gewährung der Leistungen führen.
Die interdisziplinäre Eingangsdiagnostik ist eine zwingende Voraussetzung für die Gewährung heilpädagogischer Leistungen. Dies entschied das Sozialgericht Karlsruhe am 27. Juli 2022 (AZ: S 10 SO 2576/21). Diese Entscheidung wird von Sozialrechtlern kritisiert, erklärt die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).
Eingliederungshilfe für Kinder
Eine 2016 geborene Klägerin mit einer wesentlichen Behinderung beantragte im April 2020 bei einer Stadt in Baden-Württemberg heilpädagogische Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) wegen Verhaltensauffälligkeiten.
Die Stadt bewilligte die Leistungen erst ab dem 1. Mai 2021, nachdem eine interdisziplinäre Eingangsdiagnostik durchgeführt worden war. Leistungen für die Zeit davor wurden abgelehnt.
Urteilsbegründung: Interdisziplinäre Diagnostik ist Voraussetzung
Das Sozialgericht Karlsruhe bestätigte die Entscheidung der Stadt. Die interdisziplinäre Eingangsdiagnostik sei zwingende Voraussetzung für die Gewährung heilpädagogischer Leistungen der EGH. Und zwar unabhängig davon, ob eine Komplexleistung oder eine Einzelleistung beantragt wurde. Die Komplexleistung ist der Regelfall und hat Vorrang vor der Einzelleistung. Dies ergibt sich aus den Regelungen der Landesrahmenvereinbarung für die Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in Baden-Württemberg.
Rechtliche Anspruchsvoraussetzungen
Die Gewährung von heilpädagogischen Leistungen der EGH setzt nach § 79 Abs. 1 SGB IX voraus, dass der behinderte Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich beeinträchtigt ist, und die Leistungen geeignet und notwendig sind, diese Beeinträchtigungen zu beseitigen oder zu mildern.
Die interdisziplinäre Eingangsdiagnostik ist eine verfahrensrechtliche Maßnahme, die dazu dient, den Bedarf des behinderten Menschen festzustellen und die am besten geeignete Maßnahme zu ermitteln. Sie ist nicht zwingend erforderlich, um die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung heilpädagogischer Leistungen der EGH zu prüfen.
Dispositionsrecht des behinderten Menschen
Nach § 104 Abs. 1 SGB IX hat der behinderte Mensch das Recht, die Art und Weise der Erbringung der Leistungen der EGH zu bestimmen, soweit dies mit dem Ziel der Eingliederung vereinbar ist.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe missachtet dieses Dispositionsrecht des behinderten Menschen. Das Gericht hat entschieden, dass die Komplexleistung der Frühförderung der Regelfall ist und der Einzelleistung vorzuziehen ist. Damit hat das Gericht Menschen mit Behinderung die Entscheidung über die Art und Weise der Erbringung von heilpädagogischen Leistungen genommen.
Quelle: www.dav-sozialrecht.de
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- red/dav