
Es ist ein Klassiker unter den Verkehrsrechtsmythen: Wer auf das vorausfahrende Fahrzeug auffährt, hat Schuld. Eine Vermutung, die zunächst einleuchtend klingt. Schließlich muss der hinten Fahrende auf den Verkehr achten und entsprechend reagieren, wenn der Vordermann oder die Vorderfrau auf die Bremse tritt.
Der Anschein kann trügen
Tatsächlich ist es so, dass bei Auffahrunfällen die Schuld wesentlich häufiger beim Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs liegt als beim „Getroffenen“ – zum Beispiel, weil der Fahrer den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand nicht einhält oder auf ein abbiegendes Fahrzeug auffährt, weil er nicht auf die Straße geachtet hat.
„Der sogenannte ‚Anscheinsbeweis’ spricht bei solchen Kollisionen dafür, dass der Auffahrende sich verkehrswidrig verhalten hat“, sagt Rechtsanwältin Dr. Daniela Mielchen von der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV). Das heißt aber nur, dass zunächst von einer Schuld des Auffahrenden auszugehen ist.
Diese Vermutung kann sich bei der Untersuchung des Unfalls durch ein Gericht aber als falsch herausstellen. „Die Schuld an einem Unfall trägt derjenige, der gegen die Verkehrsregeln verstoßen und den Unfall verursacht hat“, sagt die Verkehrsrechtlerin Dr. Mielchen vom DAV. Das kann durchaus auch der Vorausfahrende sein – zum Beispiel, wenn er völlig unvermittelt eine Vollbremsung macht und dadurch den Unfall auslöst.
Ein solches gefährliches Bremsmanöver muss gut begründet sein. Wer beispielsweise für kleinere Tiere in die Eisen steigt, kann damit rechnen, bei einem daraus resultierenden Unfall die Schuld ganz oder teilweise zugesprochen zu bekommen.
Schuld kann man teilen
Häufig stellt sich bei der Untersuchung eines Unfalls auch heraus, dass beide Verkehrsteilnehmer Fehler gemacht haben. Etwa, wenn der Vorausfahrende unverhältnismäßig stark gebremst hat und der Hintermann gleichzeitig zu schnell unterwegs war.
Das Gericht kann in einem solchen Fall die Haftungsquote auf die beiden Beteiligten aufteilen, woraufhin ein Fahrer dann beispielsweise 60 Prozent des Schadens trägt und der andere 40. Gelegentlich wird die Haftung bei einer Kollision auch geteilt, wenn sich die Schuld nicht eindeutig ermitteln lässt, zum Beispiel bei einem Unfall nach einem Fahrbahnwechsel oder bei einer Massenkarambolage.
Es bleibt festzuhalten: Die Annahme, dass der Auffahrende bei einem Unfall immer die Schuld trägt, ist falsch. Wie so oft im Recht kommt es ganz auf den Einzelfall an.
- Datum
- Aktualisiert am
- 08.06.2015
- Autor
- pst