
Deutsche Anwaltauskunft: Frau Waibl, der „Kunstfehler“ ist im Volksmund immer noch sehr verbreitet. Inwieweit besteht hier ein Unterschied zum Behandlungsfehler und spielt der Kunstfehler überhaupt noch eine Rolle im deutschen Recht?
Waibl: Es gibt keinen Unterschied. Das ist lediglich eine Frage der Terminologie. Früher bezeichnete man die ärztliche Behandlung als eine „Kunst“, heute wird sie nur als eine Dienstleistung höherer Art definiert.
Anwaltauskunft: Wie definiert sich ein Behandlungsfehler?
Waibl: Von einem Behandlungsfehler spricht man, wenn Abweichungen vom sogenannten Facharztstandard vorliegen, der sogenannte Facharztstandard unterschritten wird. Den Facharztstandard wiederum bestimmt der Gerichtsgutachter im jeweiligen Einzelfall. U.a. hängt dieser vom Zeitpunkt der Behandlung ab. Da der Facharztstandard einer laufenden Veränderung unterliegt, kann eine Behandlung, die vor einigen Jahren dem Standard entsprach heute fehlerhaft sein. Umgekehrt kann eine Neulandmedizin zum Standard werden. Zudem muss der Sachverständige derselben Fachrichtung angehören, wie der Arzt, dem der Behandlungsfehler vorgeworfen wird.
Urteil: 50.000 Euro Schmerzensgeld für Amputation
Das Opfer eines massiven Behandlungsfehlers erhält nach einer Entscheidung des Oberlandesgericht Hamm (AZ: 26 U 59/16 OLG Hamm) 50.000 Schmerzensgeld.
Der rechte Unterarm des Patienten musste nach einer falschen Behandlung mit einer Gipsschiene amputiert werden. Dies war nötig, weil der behandelnde Hausarzt die Möglichkeit eines sogenannten „Kompartmentsyndroms“ nicht abgeklärt hatte, als beim Patienten kurz nach Anlegen der Schiene typische Beschwerden wie eine deutliche Schwellung mit Hämatom und starke Schmerzen aufgetreten waren.
Ein Kompartmentsyndrom, bei dem durch erhöhten Druck in den Muskellogen des Unterarms oder -beins Blutgefäße, Muskeln und Nerven geschädigt werden, kann, die - wie in diesem Fall - zum Verlust von Gliedmaßen führen kann.
Nachdem das Landgericht Bochum im vergangenen Jahr die Klage des Mannes noch abgewiesen hatten, entschieden die Richter in Hamm nun in zweiter Instanz zu seinen Gunsten.
Anwaltauskunft: Wie sieht die Rechtslage aus, wenn Patienten mangelhaft aufgeklärt worden sind über Standardtherapien oder auch alternative Behandlungsmethoden?
Waibl: Das sollte zu demselben Ergebnis führen wie ein Behandlungsfehler - die Kausalität des Schadens ist in der Regel sogar einfacher zu beweisen. Ein Problem ist aber, dass manche Gerichte der sogenannten Aufklärungsrüge kritisch gegenüberstehen und die Tendenz haben, einen Verstoß zu verneinen.
Anwaltauskunft: Das Patientenrechtegesetz ist 2013 in Kraft getreten. Zum Ziel hatte sich der Gesetzgeber gesetzt, die Rechte der Patienten zu stärken. Was hat sich seitdem verändert?
Waibl: Nicht viel, meiner Meinung nach. Ein echter Vorteil ist zumindest, dass die Patienten seitdem die Aufklärungsbögen, die sie in Arztpraxen oder Kliniken unterschreiben, in Kopie erhalten. Das ist insofern zu begrüßen, als Diskussionen über „nachträgliche handschriftliche Ergänzungen“ der Boden entzogen ist, zumal diese, falls sie denn erfolgten, in der Regel ohnehin nicht bewiesen werden können.
Anwaltauskunft: Welche Anliegen haben Ihre Mandanten?
Waibl: Meist handelt es sich um Patienten, die vorübergehend oder dauerhaft schwere gesundheitliche Einbußen erlitten haben, was häufig mit einer finanziellen Notlage einhergeht. Häufig geht es auch um die Absicherung der künftigen wirtschaftlichen Versorgung Schwerstgeschädigter.
Anwaltauskunft: Welche Ansprüche haben Patienten nach einem Behand-lungsfehler?
Waibl: Sie haben einen Anspruch auf Erstattung der materiellen Schäden, außerdem auf Schmerzensgeld und die Absicherung möglicher künftiger Schäden durch Feststellung der Ersatzpflicht.
Anwaltauskunft: Und wie machen sie die geltend?
Waibl: Der Patient muss den Behandlungsfehler, den Schaden und die Kausalität des Behandlungsfehlers für den Schaden beweisen. Wir holen die Behandlungsunterlagen ein, versuchen den Sachverhalt zu klären und bemühen uns um ein medizinisches Vorgutachten. Maßgeblich ist für den Gerichtsgutachter zunächst der dokumentierte Sachverhalt. Er kann und darf seinem Gutachten keine streitigen Quellen zugrunde legen, also zum Beispiel entgegenstehende Behauptungen der Parteien zum Behandlungsablauf oder sich widersprechende Zeugenaussagen. In diesem Fall muss das Gericht gegebenenfalls nach Einvernahme von Zeugen den Sachverhalt vorgeben. Die vorgerichtliche Klärung von Widersprüchen hilft bei der Einschätzung der Erfolgsaussichten.
Anwaltauskunft: Wie kommen Sie als Rechtsanwältin ins Spiel?
Waibl: Als Rechtsanwalt benötigt man vom Mandanten zuerst eine sogenannte Entbindungserklärung von der Schweigepflicht. Der Mandant muss den Sachverhalt stichpunktartig, möglichst chronologisch schildern und eine Ärzteliste zusammenstellen. Die Krankenakten, die nach unserer Einschätzung für den Fall von Bedeutung sein könnten, werden von uns angefordert. Theoretisch kann der Patient das auch selbst erledigen, auf ein Anwaltsschreiben reagieren die Ärzte und Krankenhäuser in der Regel aber schneller. Bis die Behandlungsunterlagen aller Behandler vollständig vorliegen, müssen die Patienten auch in diesem Fall zwischen sechs und acht Wochen einkalkulieren. Beantragt ein Patient selbst „Einsicht in die Behandlungsunterlagen durch Zusendung von Kopien“, dauert es meistens noch länger und die Krankenakte ist dann häufig auch nicht vollständig.
Anwaltauskunft: Wie lässt sich denn feststellen, ob eine Akte vollständig ist?
Waibl: Für den Patienten in der Regel nur sehr schwer. Als auf Medizinrecht spezialisierte Anwälte können wir das zwar auch nicht immer zu 100 Prozent feststellen, aber im Großen und Ganzen sehen wir schon, wenn etwas Wichtiges fehlt. Häufig zeigen sich Lücken nur durch Hinweise auf Feststellungen oder Maßnahmen, über die sich keine Aufzeichnungen finden. Dazu muss man die Krankenakten natürlich komplett lesen.
Anwaltauskunft: Wie gehen Sie vor, wenn Ihnen die Akte vorliegt?
Waibl: Wir vergleichen die Patientenakte mit der Sachverhaltsdarstellung des Mandanten. Bestehen Divergenzen, versuchen wir festzustellen, ob diese relevant für den Beweis eines Behandlungsfehlers, die Kausalität oder den Schaden sind, und falls ja, ob und wie sich die Darstellung des Mandanten beweisen lässt. Gelegentlich sind die Vorwürfe des Mandanten nicht beweisbar oder unbegründet, dafür übersieht er manchmal Fehler, die tatsächlich ursächlich für seinen Gesundheitsschaden waren. Auch dies lässt sich dann mit Hilfe eines Vorgutachtens klären.
Anwaltauskunft: An welche Stellen können sich betroffene Patienten zum Beispiel bei einem Verdacht auf einen ärztlichen Behandlungsfehler wenden?
Waibl: Zunächst einmal an ihre Krankenkasse, immer auch an die zuständige Landesärztekammer – oder natürlich an einen Rechtsanwalt.
Anwaltauskunft: Wie sind Ärzte gegen Behandlungsfehler versichert?
Waibl: Über eine Berufshaftpflichtversicherung. Die Ärzte müssen eine Haftpflichtversicherung abschließen. DAs bestimmt die Berufsordnung und Heilberufekammergesetz. Ob eine solche Versicherung besteht, wird nicht kontrolliert, jedenfalls nicht in regelmäßigen Abständen und mir bekannt ist. Wir hatten einen Fall, in dem eine Ärztin nicht versichert war, weil sie vergessen hatte, die Prämie zu bezahlen. Sie musste dann privat für den Schaden aufkommen. Gelegentlich treten auch Fälle der Unterversicherung auf. Einige der großen Kliniken – zumindest kann ich das für München sagen – sind sogenannte Selbstversicherer. Das heißt, dass sie keine eigene Berufshaftpflichtversicherung besitzen. Diese Kliniken müssen deshalb sowohl den Schaden als auch die Prozesskosten nach Behandlungsfehlern selbst tragen. Dementsprechend verbissen kämpfen diese Kliniken, um sich vor Ansprüchen von Patienten zu verwahren. Die in diesen Kliniken tätigen Ärzte verfügen indessen über eigene Berufshaftpflicht-versicherungen.
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- Datum
- Aktualisiert am
- 14.08.2017
- Autor
- kgl/ime