Man kennt das aus Filmen: Ein Prozess gegen eine mafiöse Organisation, ein ehemaliger Mitarbeiter packt aus. Er nennt Namen, Daten, Adressen und Verbindungen und trägt damit maßgeblich zur Verurteilung von ranghohen Mitgliedern bei. Die Ehefrau des leitenden Mitglieds sieht das Imperium in Gefahr und schwört Rache. Der Zeuge wird daraufhin in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen: Er zieht um, verändert sein Aussehen und lebt fortan zurückgezogen in den Bergen, wo er seine neue Lebensgeschichte auswendig lernt. Was haben solche Geschichten mit der Realität zu tun?
Kronzeugen: Belastungszeugen mit brisantem Wissen
Mit Blick auf das Zeugenschutzprogramm gilt wie so oft: Was in Filmen zu sehen ist, spiegelt eher das amerikanische als das deutsche Prozedere. In den USA dürfen Beweise, die durch unsaubere Methoden erlangt wurden – zum Beispiel in einer unerlaubten Hausdurchsuchung – vor Gericht nicht verwendet werden. Die Beweisfindung ist also deutlich schwerer, und Zeugenaussagen wichtiger und schlagkräftiger als in Deutschland. In der Folge sind Zeugenschutzprogramme häufiger notwendig.
Hierzulande ist die Beweisfindung etwas einfacher. Es ist theoretisch also leichter, Straftäter zu verurteilen. „Es gibt aber auch in Deutschland Fälle, in denen der Prozess mit der Aussage einer Person steht und fällt – deren Informationen so wichtig sind, dass sie zur Verurteilung von Angeklagten führen“, sagt Rechtsanwältin Michaela Landgraf, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV). Solche Zeugen bezeichne man im Sprachgebrauch als Kronzeugen, obwohl sich im Gesetz keine Legaldefinition dieses Wortes finde.
Bedeutung der Aussage entscheidet über Zeugenschutz
Ab wann Kronzeugen in Deutschland als schützenswert gelten und wie sie geschützt werden können, regelt das Zeugenschutzharmonisierungsgesetz (ZSHG). Daneben gibt es zahlreiche Vorschriften in der Strafprozessordnung, die sich mit dem Thema Zeugenschutz befassen und die zuletzt durch das Zeugenschutzgesetz (ZSchG) im Rahmen der Strafrechtsnovellierung von 1998 modifiziert wurden.
Hat jemand etwas zu einem Ermittlungsverfahren beizusteuern, das ihn oder seine Familie in Gefahr bringen könnte, skizziert er zunächst bei der Polizei, was er weiß. Der Staatsanwalt hat den Überblick über die Beweislage kann einschätzen, ob der Zeuge als Kronzeuge gelten kann. Teilweise fordern der aussagewillige Zeuge oder sein Anwalt aber auch Zeugenschutz als Gegenleistung zur Aussage.
„Je nach ´Sprengkraft` der Aussage und Gefährdung des Zeugen wird entschieden, welche Maßnahmen des Opfer- oder Zeugenschutzes notwendig sind“, fügt Rechtsanwältin Landgraf hinzu. Ein Zeugenschutzprogramm sei nur die letzte und äußerste Option. Meist würden zunächst die Daten des Zeugen in den Ermittlungsakten geschwärzt. Der Name sei dann zwar noch lesbar, nicht aber die Adresse und das Geburtsdatum.
Ausschluss der Öffentlichkeit: Schutz für Zeugen und Opfer
Naheliegend und ebenfalls vergleichsweise unkompliziert ist es, die Öffentlichkeit vom Prozess auszuschließen und damit die Identität des Zeugen zumindest vor Angehörigen des Verurteilten und Journalisten zu schützen. Nach § 172 Abs. 1a Gerichtsverfassungsgesetz (GvG) kann ein Prozess ganz oder teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, wenn „eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist“.
Ein Beispiel: Eine Prostituierte sagt vor Gericht gegen einen Drogendealer aus. Wäre die Öffentlichkeit zugelassen, säßen womöglich Handlanger des Drogendealers mit im Saal, die sich an der Frau rächen könnten. Zudem erführen andere von ihrer Tätigkeit, wodurch ihr beispielsweise bei einer Jobsuche nach einem Ausstieg aus dem Milieu Nachteile entstehen könnten. Das Gericht hat dann die Möglichkeit, für die Dauer der Zeugeneinvernahme die Öffentlichkeit auszuschließen.
Zudem kann es nach § 68 Strafprozessordnung (StPO) als weitere Maßnahme des Zeugenschutzes Zeugen erlassen werden, bei der Vernehmung vor Gericht ihre Privatadresse zu nennen. Vor allem Polizisten, die von Amts wegen aussagen, können dann ihre Dienstadresse als ladungsfähige Anschrift angeben.
Opferschutz: Vernehmung auf Video
Manchen Opfern von Gewalttaten möchte die Staatsanwaltschaft auch ersparen, überhaupt im Gerichtssaal auszusagen. Seit der Novellierung der StPO durch das Zeugenschutzgesetz wird verstärkt von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, schutzwürdige Zeugen wie Kinder und Jugendliche in Missbrauchsverfahren im Vorfeld des Gerichtsverfahrens per Videovernehmung durch den Ermittlungsrichter befragen zu lassen.
„Bei Opfern sexueller Gewalt wird das häufig so gehandhabt, um ihnen die Aussage im Gerichtssaal zu ersparen“, informiert die Strafverteidigerin aus München. Das Video werde dann später im Prozess abgespielt und als Beweis verwendet.
Teilweise wird auch eine Vernehmung im Gerichtssaal via Videoübertragung durchgeführt, bei der der Zeuge vor der Kamera verhüllt ist oder sogar seine Stimme verzerrt wird, um seine Identität zu schützen. Bei verdeckten Ermittlern, die zum Beispiel in einer rechtsextremen Organisation aktiv sind, findet die Vernehmung ebenfalls häufig auf diese Art statt – zum einen, um sie zu schützen, zum anderen, um sie nicht zu enttarnen und zu vermeiden, dass sie für die Szene „verbrannt“ sind.
Zeuge in Gefahr: Endstation Zeugenschutzprogramm
Zeichnet sich während des Prozesses oder schon im Vorfeld ab, dass dies nicht reichen wird, um die Sicherheit des Zeugen zu gewährleisten, wird der Fall der zuständigen Zeugenschutzabteilung der Polizei übergeben. Wo diese verortet ist, kommt auf das Bundesland an. Häufig ist es das Landeskriminalamt.
Ein Sachbearbeiter holt dann den Zeugen ab und trifft sich mit ihm an einem geheimen Ort – den nicht einmal sein Anwalt kennt – zu einer Hintergrundbesprechung. Er versucht dann herauszufinden, ob Zeugenschutz notwendig ist und wenn ja, wie dieser aussehen muss. Wenn die Prüfung ergibt, dass der Kandidat nach §1 ZSHG tatsächlich in Lebensgefahr ist, läuft das Zeugenschutzprogramm an.
Zeugenschutzprogramm: Neue Identität, neuer Wohnort, neues Leben
Um Zeugen und gegebenenfalls deren Familien bis zum Prozess in Sicherheit zu bringen, werden diese teilweise in Schutzhaft genommen oder sogar ins Ausland gebracht. Nach dem Strafverfahren bekommen sie dann eine neue Identität, inklusive neuen Papieren, sogenannte Tarndokumenten. Personen im Zeugenschutzprogramm müssen ihren Wohnort und meist auch ihren Beruf wechseln. Ein Zeugenschutzprogramm läuft unter größter Geheimhaltung ab. Offiziell verschwinden die Personen einfach von der Bildfläche.
Zeuge selbst Straftäter: Zeugenschutzprogramm nach der Haft
Nun ist es auch denkbar, dass ein Kronzeuge selbst kriminell ist, und mit seiner Aussage nicht nur Komplizen, sondern auch sich selbst belastet. Solche Zeugen können in der Regel auf eine mildere Strafe hoffen. „Müssen die Kronzeugen selbst in Haft, kann ein Zeugenschutzprogramm auch nach Ende Haftzeit anlaufen“, sagt Rechtsanwältin Landgraf. Manche würden schon die Haft unter falschem Namen antreten. Das sei oft auch deshalb notwendig, um die Zeugen vor Vergeltungsakten durch Insassen zu schützen.
Eine Strafminderung bekamen zum Beispiel auch die zurückgekehrten Wolfsburger IS-Kämpfer. Da sie der Polizei und den Medien tiefe Einblicke in die Organisation der Terrormiliz verschafften, wurde sie lediglich zu drei Jahren beziehungsweise vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Da beide Rückkehrer als „Abtrünnige“ in Lebensgefahr schweben, müssen sie womöglich in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden.
Zeugenschutz immer freiwillig
Die Teilnahme am Zeugenschutzprogramm ist freiwillig. Es läuft nur so lange, wie der Zeuge gefährdet ist. Wenn sich die Gefahrenlage ändert, weil zum Beispiel die potenziellen Rächer verstorben sind, erhält der Teilnehmer seine alte Identität zurück. Die Tarndokumente können auch dann wieder eingezogen und der Schutzmaßnahmen beendet werden, wenn der Zeuge sich nicht an die Regeln hält.
So darf er seine alte Identität nicht verwenden und niemanden aus seiner Vergangenheit kontaktieren. Abgesehen von ihrem Ansprechpartner bei der Polizei darf er mit niemandem über das Programm sprechen, auch nicht mit einem Anwalt.
Natürlich können die Zeugen aus dem Zeugenschutzprogramm auch aussteigen – für ihre Sicherheit können die Zeugenschutzstellen dann aber nicht mehr viel tun. Und auch wenn ein Zeuge das Programm durchhält und die Regeln befolgt, besteht theoretisch immer noch eine geringe Chance, dass jemand seine ursprüngliche Identität aufdeckt. So wurde beispielsweise schon ein geschützter Zeuge über seinen Personenschützer aufgespürt.
Sie suchen Schutz? Rechtsanwälte für Strafrecht oder Opferrecht helfen
Wer in Deutschland Opfer einer Straftat geworden ist oder eine solche beobachtet hat und sich mit einer Aussage in Gefahr bringen würde, kann von der Polizei geschützt werden. Der Zeugenschutz umfasst viele Maßnahmen unterschiedlicher Ausprägung, mit denen Zeugen vor Vergeltungsschlägen geschützt werden. Eine Anwalt oder eine Anwältin für Opferrecht oder Strafrecht in Ihrer Nähe finden Sie in unserer Anwaltssuche. Strafverteidiger erreichen Sie rund um die Uhr und das ganze Jahr hindurch über den Strafverteidiger-Notruf des DAV.
- Datum
- Aktualisiert am
- 22.03.2016
- Autor
- vhe