
Was versteht man unter zivilem Ungehorsam?
Ziviler Ungehorsam ist eine Form des politischen Protests, bei dem Menschen bewusst und gewaltfrei gegen bestimmte Gesetze, Regierungsentscheidungen oder soziale Normen verstoßen, um auf Unrecht oder Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen oder Veränderungen herbeizuführen. Prominente Beispiele für zivilen Ungehorsam aus Vergangenheit und Gegenwart:
- Anti-Atomkraft-Bewegung – gewaltfreie Blockaden gegen die Errichtung von Kraftwerken,
- Greenpeace: Blockadeaktionen von Walfangschiffen u.a., um auf Umweltprobleme hinzuweisen,
- 2019/2020: Hongkong – Massenproteste gegen den wachsenden Einfluss Chinas auf die Sonderverwaltungszone, u.a. mit Straßenblockaden.
Was sind die gängigsten Protestformen zivilen Ungehorsams?
Die Form des gewählten Widerstands hängt oft auch von den Gesetzen des Ortes ab, an dem protestiert wird. So sind Protestformen in Ländern, die schwere Strafen für zivilen Ungehorsam verhängen, mit höheren Risiken für die eigene Freiheit und körperliche Unversehrtheit verbunden. Aktuelle Beispiele werden in den Nachrichten fast täglich thematisiert. Eine Auswahl der gängigsten Protestformen:
- Sit-ins und Besetzungen/Blockaden
- Hungerstreiks
- Boykotte: Durch den Boykott von Produkten, Dienstleistungen oder Veranstaltungen können Menschen wirtschaftlichen Druck aufbauen und Unternehmen oder Regierungen dazu bringen, auf ihre Forderungen einzugehen.
- Verweigerung von Steuern oder Gebühren: Menschen können bewusst die Zahlung von Steuern oder Gebühren verweigern, um gegen bestimmte politische Maßnahmen oder Gesetze zu protestieren.
- Künstlerischer Protest: Kreative Formen des zivilen Ungehorsams wie Straßenkunst, Performance-Aktionen oder symbolische Gesten können genutzt werden, um Missstände anzuprangern und eine breitere Diskussion in der Gesellschaft anzuregen.
- Whistleblowing: Durch das Enthüllen von vertraulichen Informationen oder Geheimnissen können Whistleblower Missstände oder illegales Verhalten ans Licht bringen und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen.
Rechtliche Grundlage: Worauf berufen sich Klimakleber?
Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten nutzen zivilen Ungehorsam, um ihrer Unzufriedenheit mit aktueller Klimaschutz-Politik Ausdruck zu verleihen. Rechtlich beziehen sie sich dabei auf folgende Gesetze:
- Grundgesetz Artikel 20a der Bundesrepublik Deutschland. Dieses besagt, dass der Staat in Verantwortung für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere durch Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung schützt.
- Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG), § 3: Hier sind die Nationalen Klimaschutzziele festgeschrieben. Demnach sollen die Treibhausgasemissionen (CO2) bis 2030 um mindestens 65%, bis 2040 mindestens 88%, und bis 2045 um 100 Prozent reduziert werden. Das Bundesverfassungsgericht teilte am April 2021 mit:
„Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde.“
Protestaktionen werden damit begründet, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung nicht nachkomme. Entsprechend der geltenden Gesetze müsse sie wirksame Schritte für das Erreichen der Klimaschutzziele und den Schutz zukünftiger Generationen umsetzen. Da dies nicht geschehe und einen „Verfassungsbruch“ darstelle, wolle die Aktivistengruppe „Letzte Generation“ eine nachhaltige Veränderung erwirken, indem „wir entschlossen zivilen Widerstand leisten und die rechtlichen Konsequenzen in Kauf nehmen, bis hin zu massenhaften Inhaftierungen von Klimaschützenden über Wochen bis Monate. Gemeinschaftlich schaffen wir die notwendige Störung, um die Gesetze zu bestehenden Machtverhältnissen zu verändern.“ (Wertekodex, Punkt 2).
Klima-Kleber: Strafen für Nötigung
Nach etlichen bisher erfolgten Klebe-Aktionen wurden Platzverweise, Geldstrafen oder Sozialstunden als Sanktionen ausgesprochen. In letzter Zeit wurde das Blockieren wichtiger Verkehrsstraßen mit härteren Strafen geahndet: Gerichte verurteilten mehrere Protestteilnehmer der Nötigung, die eine Straftat nach § 240 des Strafgesetzbuches darstellt. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, „wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt.“ Da drei Aktivisten in Heilbronn kurze Zeit nach einer ersten Verurteilung wieder Straßen blockierten, wurden sie zu Gefängnisstrafen zwischen drei und fünf Monaten verurteilt.
Klimakleber: Strafrecht verschärfen?
Aufgrund anhaltender Proteste der Aktivisten sowie einer als unzureichend empfundenen Unterbindung durch die Staatsgewalt wurde eine Diskussion über härtere Strafen für Klimakleber entfacht. Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV), sieht keine Notwendigkeit dafür:
„Wir brauchen keine neuen Gesetze. Was aktuell an Protestaktionen passiert, ist nichts fundamental Neues. Es bedarf weder einer Verschärfung bestehender noch einer Schaffung neuer Straftatbestände. Die Rechtsprechung reagiert bereits und hält bestimmte Protestformen für potenziell strafbar, etwa als Nötigung. Es gibt keinen Grund hier nachzusteuern. Verurteilungen im Zusammenhang mit Klimaprotesten finden allenthalben und nicht unbedingt zurückhaltend statt.“
Rechtsanwalt Dr. Christoph Bühler, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV, ergänzt:
„Der Nötigungstatbestand des § 240 Strafgesetzbuch mit einer Strafdrohung mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren reicht vollkommen aus, muss von den Gerichten eben nur auch ausgeschöpft werden. Was der oben angeführte Heilbronner Fall auch für den Wiederholungsfall gezeigt hat. Weitergehende strafschärfende Forderungen in der Politik von bestimmten Parteien sind rein populistischer Art.“
Letzte Generation eine „kriminelle Vereinigung?“
Mediales Aufsehen erregte die bundesweite Razzia im Mai, bei der Wohnungen und weitere Räume der „Letzten Generation“ durchsucht wurden. Dabei ging es um einen Anfangsverdacht, Straftaten mittels Spendengeldern zu finanzieren sowie eine kriminelle Vereinigung zu bilden und/oder zu unterstützen. Das Gesetz sieht Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen vor, wenn eine Person „eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist […]. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt“, (§ 129 StGB). Das mögliche Strafmaß wäre hierbei also weitaus höher.
Die Debatte ist juristisch noch nicht final entschieden. Höhere Gerichtsinstanzen befassen sich mit eben diesen Fragen, um eine eindeutige und gefestigte Rechtsprechung in Zukunft zu erreichen. Strafrechtler Dr. Bühler: „Diese Sache wird sicherlich höchstrichterlich (vom Bundesgerichtshof) geklärt werden (müssen), so wie auch jüngst die sogenannten Impfpass-Fälschungs-Fälle aus dem Jahr 2021 erst Ende letzten Jahres, […] entschieden wurden.“ Der Rechtsanwalt empfiehlt, dass „nicht-freisprechende Entscheidungen auf jeden Fall seitens der Verteidigung angefochten werden sollten, damit sie möglichst lange nicht rechtskräftig werden."
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Gericht urteilt: Ziviler Ungehorsam rechtfertigt keine Straftaten
klar ist, dass der Klimaprotest nicht allein sitzend oder klebend stattfindet, sondern ebenso in Form von Sachbeschädigungen. Am 29. Juli 2022 urteilte das Oberlandesgericht Celle, dass Schadensersatz für eine mit Farbe verschmutzte Wand gezahlt werden müsse, die einer Protestaktion zum Opfer fiel. Es handele sich um eine Symboltat, die keinen unmittelbaren Einfluss auf den Klimawandel habe. Niemand sei berechtigt, in die Rechte anderer einzugreifen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Wer auf den politischen Meinungsbildungsprozess einwirken möchte, könne dies unter anderem in Wahrnehmung seiner Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder seines Petitionsrechts tun. Die Begehung von Straftaten gehöre nicht dazu. Würde man die Überzeugung der handelnden Person als Rechtfertigungsgrund akzeptieren, wäre das quasi eine Legalisierung von Straftaten zur Erreichung politischer Ziele.
Klima-Kleber: Dürfen sich Bürgerinnen und Bürger (Not-)wehren?
Für viele Berufspendler und andere Verkehrsteilnehmer führen die Protestaktionen zu Wut und Verärgerung. Einige warten nicht erst auf die Polizei, um betroffene Straßen wieder frei zu machen, sondern zerren die Sitzblockaden selber unsanft von der Straße. Auch Tritte und Schläge gegen die Demonstranten wurden gefilmt. Aber ist das überhaupt rechtens?
Nötigung und Körperverletzung, sagen die Protestierenden. Notwehr, finden die aufgehaltenen Autofahrer, deren sprichwörtliche Zündschnur immer kürzer wird. Notwehr wäre keine rechtswidrige Handlung, „wenn die Verteidigung eines gegenwärtig rechtswidrigen Angriffes gegen sich oder andere erforderlich ist“ (§ 32 StGB).
Aber Vorsicht: Ob die Verteidigung wirklich erforderlich ist (weil man zum Beispiel einen beruflichen Termin wahrnehmen muss), entscheidet nicht der eigene Terminkalender. Die Sitzenden haben jedenfalls auch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit – die Grenze zwischen Nötigung und ausgeübtem Grundrecht verläuft nicht immer klar. Klar ist dagegen, dass die Anwesenheit von Polizei keine Notwehr mehr erlaubt: Bürgerinnen und Bürger haben kein Notwehrrecht, wenn die Polizei vor Ort ist und eingreifen kann. Gleiches gilt für physische Gewalt am Straßenrand – ist die Straße wieder frei befahrbar, ist der Angriff nicht mehr „gegenwärtig“, wie es der Notwehrparagraf erfordert. Dann machen sich Autofahrerinnen und Autofahrer, so verständlich ihr Unmut auch sein mag, selbst strafbar. Auch Rechtsanwalt Dr. Bühler sieht wenig Spielraum für Notwehr: „Ein rechtlich wirksames Notwehrrecht, das nicht gegen das Übermaßverbot verstößt, wird es in diesen Fällen nicht geben.“
Das Thema wird uns noch eine Weile begleiten. Anwältinnen und Anwälte zum Thema Strafrecht stehen Ihnen länger zur Verfügung, als jede Form zivilen Ungehorsams. Professionellen Rechtsbeistand zu allen Rechtsgebieten in Ihrer Nähe finden Sie unter anwaltauskunft.de/anwaltssuche.
- Datum
- Aktualisiert am
- 27.06.2023
- Autor
- red/dav