„Das Internet ist für uns alle Neuland (…)“ Dieses Zitat ist gerade mal gute zwei Jahre alt und stammt von Kanzlerin Angela Merkel, die dafür viel Kritik und Häme - vor allem im besagten #Neuland - einstecken musste.
Will man diesen Satz nun als persönliches Armutszeugnis oder verspätete politische Reaktion auf die Existenz dieses neuen „Kontinents“ werten, so steckte darin doch eine wichtige Essenz: Wir bewegen uns auf unerforschtem Terrain, wir sind Pioniere einer weltweiten Erforschung, wir - das sind 3 Milliarden - Nutzer eines Netzwerks, das sich täglich ausdehnt, wie einst die „Frontier“ - das Grenzland - in den Vereinigten Staaten.
Doch nach Jahrzehnten, in denen das Gesetz des Stärkeren galt, hatte man sich dort 1787 auf ein gemeinsames Wertesystem in einem endlos erschienenen Land geeinigt: Die Verfassung. Gibt es auch im Netz eine bestimmte Grenze der Ausdehnung, ist irgendwann vielleicht kein Platz mehr? Sind dem Internet überhaupt Grenzen durch eine Verfassung gesetzt? Gibt es auch ethische Grundsätze in dieser Gemeinschaft aus Nutzern oder herrscht hier bis jetzt auch nur das Recht der Masse, gegeneinander statt miteinander?
Die physischen Grenzen des Internets sind noch lange nicht erschlossen, die virtuelle Landkarte ist größtenteils weiß. Über die Beschaffenheit der realen Grenzen des Internets lässt sich mit Sicherheit streiten und Prognosen sind äußerst schwer zu treffen. Allerdings sind die umsatzstärksten Unternehmen weltweit Anbieter von internetfähiger Hardware und Software, weshalb ein Erreichen der Kapazität wahrscheinlich auf sich warten lässt, solange nicht jeder Mensch auf dem Planeten zu einem sogenannten Smombie mutiert ist. - Komisch, wie sich in einem Neuland innerhalb von zwei Jahren eine Zombie-Apokalypse entwickeln kann.
Wer behauptet, das Internet sei rechtsfreier Raum, hat sich zum Glück getäuscht. Es existieren vereinzelt Rechte, deren Durchsetzung sich allerdings schwierig gestaltet. Illegale Seiten kommen und gehen, deren Betreiber schwer dingfest zu machen. Neben dem Urheberrecht, Vertragsschutz und einem - so scheint es -schwammigen Datenschutzrecht, gibt es im Internet bis jetzt kein internationales Strafrecht und keine Verfassung. Dieses Problem kann deshalb kein Land im Alleingang lösen, denn „worldwide“ bedeutet eben auch hier „worldwide“. In jedem Land gelten im „web“ andere Spielregeln und Grenzen.
Der rechtsfreie Raum hört dort auf, wo man es nicht versäumt, das Recht zu verteidigen. Oft wird nur bei finanziellen Schäden auf einer Grenze beharrt. Die ethischen Grenzen hingegen sind nach wie vor offen: Cyber-Mobbing, Shitstorms und neuerdings rassistische Hetze gegen Flüchtlinge werden selten geahndet und entwickeln sich zu einem Alltagsphänomen.
Der „Spielplatz WWW“ bietet jedem Individuum unserer pluralistischen Gesellschaft eine Schaukel oder eine Rutsche, auf der es sich austoben kann. Nur leider ist es ein Spielplatz für Erwachsene und nicht alle sind zum Spielen, Reden oder Spaßhaben da. Das Gegenteil ist der Fall, geht jemand unachtsam mit seinen Daten um. Im Netz ist man schnell sein Geld, seinen Ruf oder seine Würde los, da viele - in den Deckmantel der Anonymität gehüllt - vergessen, dass hinter jedem Bildschirm ein Mensch mit echten Gefühlen steckt, die so komplex sind, dass sie nicht durch Emojis ausgedrückt werden können. Täglich kollidieren Interessen frontal - kein Ort für Kompromisse. Spaß wird auf Kosten der Anderen gemacht - jeder liebt jeden, jeder folgt jedem, jeder hört jedem zu, bis alle auf einmal einen hassen.
Wo bliebt allerdings der Schutz von Privatpersonen, öffentlichen Personen, ethnischen Minderheiten, Flüchtlingen? Müssen wir alle damit rechnen, dass uns jeder Riss in unserem Mantel der Unsichtbarkeit schadet? Dass jede Information die Google, Facebook, Twitter und Co. von uns sammelt, eine zu viel ist? Dass wir erpresst werden können, weil wir unsere Privatsphäre der Wirtschaft auf dem Silbertablett serviert haben?
Alles Fragen, die eigentlich nicht nur mich, sondern auch den Staat beschäftigen sollten, der nach eigenen Angaben schon auf dem neuen Kontinent „Internetzia“ angekommen ist. Bis jetzt verteidigt er die Verfassung nur im realen Leben, jedoch nur in Ausnahmefällen online, wo doch „Meinungsfreiheit“ und „Privatsphäre“ fließend in „ungehemmte Volksverhetzung“ und „anonymisierte Kriminalität“ übergehen. Der Staat muss bei der Verletzung der Menschenwürde im Netz adäquat reagieren und verfassungsfeindlichen Gruppen schnellstmöglich die Öffentlichkeit und die Kommunikation entziehen, da sonst der Terror und die Gewalt, in den „sozialen“ Netzwerken verherrlicht, auf die Straße getragen wird.
Ich erhoffe mir von der Gesellschaft nicht mehr, als dass wir unsere menschlichen Werte - und in diesen Tagen sollte man sich in europäischen und deutschen Werten lieber in Vorsicht sonnen - beim Blick aufs Smartphone nicht sofort über Bord werfen. Und ich erhoffe mir vom Staat, dass er hinsieht, wenn die Menschenwürde und die Privatsphäre von seinen Bürgern und von den Bürgern anderer Länder leidet - ohne dabei zum Überwachungsstaat zu werden.
Menschenwürde - das bedeutet für mich in Frieden leben zu können, ein Recht auf Sicherheit der Person und Sicherheit des eigenen Rufs zu haben, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Doch genau diese Menschenwürde sehe ich derzeit akut gefährdet, da sie im Internet ungeahndet verletzt werden kann und die Beiträge an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben. „Gutmenschen“ gegen „besorgte Bürger“. Es herrscht ein Krieg der Meinung.
Auf allen Plattformen wird stets derjenige gehört, der virtuell am lautesten schreit und dem möglichst viele zuhören. Solche Blogger erinnern von Zeit zu Zeit an frühere Propheten. Allein schon durch die Funktion des „Folgens“ wird hier deutlich:
Diesen Menschen wird blind vertraut, ihr Wort ist für die Medien-„Jünger“ Gesetz, nebensächlich woher sie ihre Quellen beziehen und unwichtig, wie stupide oder zweifelhaft ihre Botschaften sind. Hinterfragt man ihre Beiträge, zeigt sich oft, wie verhärtet ihre falschen Ansichten wirklich sind. Als Schüler hätte man sie lernresistent genannt. Leider sind sie mittlerweile ihre eigenen Lehrer und finden unmittelbar Gleichgesinnte, die Meinung wird zur Bildung. Die Bildungsfernen unterrichten die Bildungsfereneren. Köpfe voller nutzloser Information. So ist es nicht verwunderlich, dass dem seriösen Journalismus der Boden unter den Füßen wegrutscht, dass Fehlinformationen sich im Netz wie ein Lauffeuer verbreiten und sofort für bare Münze genommen werden, da durch das Prinzip „liken“ und „followen“ zu schnell Vertrauen aufgebaut wird.
Es gilt: Wer meine Ansicht vertritt, hat Recht - und zwar in letzter Konsequenz, weil niemand gern an sich selbst zweifelt. Wir haben den Zweifel verlernt, um uns sicher zu fühlen.
Ich möchte niemandem mehr folgen. Folgen ist bequem, folgen macht abhängig, folgen ist mitunter gefährlich. Deshalb habe ich für mich entschieden „soziale" Netzwerke zu meiden und beschränke mich auf Nachrichtendienste. Nichtsdestotrotz will ich auch dort Haltung bewahren, meine Meinung äußern und immer aufmerksam und kritisch hinterfragen, was andere äußern.
Weiterhin finde ich, wir sollten wir die menschlichen Umgangsformen auch in der virtuellen Diskussionskultur wahren. Es sollten keine Grenzen überschritten werden, die im echten Leben Geltung haben und im Gesetz verankert sind. Das ist alles, was man im Umgang mit dem Internet beachten sollte: Die Würde des Menschen ist auch hier - im Neuland - unantastbar.
- Datum
- Aktualisiert am
- 07.06.2016
- Autor
- Killian Stenzel