Drückeberger, Verräter, Feiglinge, Kameradenschweine. Für Deserteure gab es lange in Deutschland nichts als Verachtung. Erst seit die Öffentlichkeit in den 1980er Jahren ausführlich das Schicksal der Wehrmachts-Deserteure diskutiert hat, wird das Bild differenzierter.
Möglicherweise kann der Soldat gute und berechtigte Gründe vorweisen, warum er seine Truppe verlassen hat – Gründe, die so überzeugend sind, dass andere Länder ihn zu seinem Schutz aufnehmen müssten.
Junge Männer aus Südkorea, zum Beispiel. In dem Land gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Rund 700 Menschen sollen dort zurzeit in Haft sitzen, weil für eine Verweigerung üblicherweise Gefängnisstrafen von 18 Monaten verhängt werden. Einige Südkoreaner haben deswegen in Europa Asyl beantragt. Verwaltungsgerichte in der Schweiz und in Frankreich verhandeln derzeit ihre Fälle. Zunehmend wird auch das Schicksal der jungen Eritreer bekannt. In dem ostafrikanischen Staat müssen Frauen und Männer teilweise über Jahre dem Militär dienen, und jede Unbotmäßigkeit wird mit schwerer Folter beantwortet.
EuGH: Vorgaben zur Frage, wann Deserteure in der EU Asyl erhalten können
Der in Deutschland berühmteste Fall, die Klage des desertierten US-amerikanischen Soldaten André Shepherd, hat sogar den europäischen Gerichtshof beschäftigt. Shepherd hatte 2007 seine Einheit verlassen, weil er nicht in den Irakkrieg zurückkehren wollte. Als Mechaniker für Apache-Hubschrauber war er zwar nicht direkt in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Seit seinem ersten Irak-Einsatz 2004 hatte er jedoch immer mehr Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Krieges und sah keine andere Möglichkeit als zu desertieren.
Das Verwaltungsgericht München muss nun darüber entscheiden, ob Shepherd Asyl bekommt. Der EuGH hatte, als ihm die Sache aus München vorgelegt worden war, einige Vorgaben zu der Frage gemacht, wann Deserteure in der EU Asyl erhalten können.
Es gibt deswegen jetzt einen neuen europäischen Grundkonsens: Nicht nur der, der ein Gewehr in der Hand hat, ist asylberechtigt, sondern auch derjenige, der den militärischen Einsatz durch Unterstützungshandlungen möglich macht. Außerdem verlangen die EU-Richter nur eine Prognose, dass Kriegsverbrechen sehr wahrscheinlich sind. Für die Vergangenheit müssen sie nicht nachgewiesen werden.
Kritik an der Kriegsverbrechen-Argumentation der europäischen Richter
Sehr umstritten ist die Aussage in dem Urteil: Wenn ein UN-Mandat besteht, gäbe es grundsätzlich eine Garantie dafür, dass keine Kriegsverbrechen begangen werden. Selbstverständlich kann es zu erheblichen Kriegsverbrechen kommen, auch wenn ein solches Mandat existiert. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Allerdings zeigt das Wörtchen „grundsätzlich“ an: Die Annahme kann widerlegt werden. Außerdem scheint der Gerichtshof die Möglichkeiten weiter einzuengen. Wenn der Staat Kriegsverbrechen bestraft, dann habe der Asylbewerber keinen Anlass zu desertieren. Im Irakkrieg wurden teilweise Übergriffe wie die in Abu Ghraib verfolgt. Aber das muss nicht heißen, dass damit die tatsächliche Ahndung von den Gerichten „sichergestellt“ wurde, so wie es die Entscheidung verlangt.
André Shepherd wird vielleicht trotzdem mit seiner Klage scheitern, weil seine Desertion aus Sicht der Richter nicht das letzte und einzige Mittel war. Aber für andere Kriegsdienstverweigerer ist klar: Es gibt in Europa durchaus einen Schutzstandard. Der scheint in Zeiten hoher Flüchtlingszahlen vielleicht unpopulär. Umso wichtiger ist es, im Sinne der europäischen Menschenrechtstradition an ihn zu erinnern.
- Datum
- Aktualisiert am
- 08.03.2016
- Autor
- Gigi Deppe