Der Fall Mutlu zeigt, wie schwer es ist, ein Strafverfahren in Gang zu bringen, wenn es um fremdenfeindliche, rassistische Äußerungen geht. Viel einfacher ist es, mit dem Finger auf Facebook, Twitter oder YouTube zu zeigen und die Plattformen anzuprangern, auf denen fremdenfeindliche Kommentare verbreitet werden.
Der Justizminister verlangt von Facebook, als eine Art Hilfspolizei Arbeit zu verrichten, zu der die Justiz nicht imstande ist. Zudem soll Facebook Kommentare löschen, die nach deutschem Recht weder strafbar noch rechtswidrig sind. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind in Deutschland nicht verboten, sondern erlaubt.
Auch „Hatespeech“ ist hierzulande nicht justiziabel. Ich darf in der Öffentlichkeit Hassbotschaften verbreiten – gegen Ausländer, gegen politische Gegner, gegen Schwule, gegen Lesben, gegen andere Minderheiten. Erst wenn ich zugleich zu Hass und Gewalt aufrufe oder die Menschenwürde in Frage stelle, ist der Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfüllt. Dies aber auch nur dann, wenn man mir in jeder Hinsicht Vorsatz nachweisen kann.
Der Tatbestand der Volksverhetzung ist ein stumpfes Schwert. Und eine Verschärfung des Tatbestandes wäre verfassungsrechtlich heikel. Denn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt Verurteilungen aufgehoben. Selbst die hässlich-dumpfe Parole „Ausländerrückführung – für ein lebenswertes deutsches Augsburg“ steht nach Auffassung der Karlsruher Richter unter dem Schutz der grundrechtlichen Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). Dabei betont das BVerfG, dass „ausländerfeindliche Äußerungen als solche“ nicht strafbar seien (BVerfG, Entscheidung vom 4. Februar 2010, AZ: 1 BvR 369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04).
Dem Justizminister, der ansonsten keine Scheu zur Verschärfung von Strafgesetzen zeigt, wird bewusst sein, dass die Karlsruher Vorgaben einem allgemeinen Verbot von „Hatespeech“ entgegenstehen. Dies macht die Facebook-Kampagne des Ministers umso fragwürdiger: Er verlangt die Beseitigung und Unterdrückung von Äußerungen, die unter dem Schutz der Meinungsfreiheit und somit unter Grundrechtsschutz stehen. Dies kann man mit Fug und Recht Zensur nennen.
Ein weiteres kommt hinzu: Provider wie Facebook sind in Europa nicht zu Kontrollen der Inhalte ihrer Nutzer verpflichtet. Wenn Minister Maas somit Kontrollen verlangt, fordert er nicht Gesetzestreue, sondern eine Verantwortung, die rechtlich nicht besteht. Eine Verantwortung, mit denen große, etablierte US-Unternehmen wie Facebook und Google vielleicht noch zurechtkommen können. Denn je größer das Unternehmen, desto mehr kann man sich Compliance und „Over-Compliance“ leisten.
Aber was sage ich als Anwalt dem Berliner Start-Up, das eine Flüchtlingshilfe-Plattform gründen möchte und mich fragt, ob man für hässliche Kommentare einzelner Nutzer zur Rechenschaft gezogen werden kann. Jede Daumenschraube, die ein Minister vor laufenden Kameras Facebook, Google, Twitter & Co. anlegen möchte, erschwert es deutschen Unternehmen, den Anschluss an den weltweiten Digitalmarkt zu halten.
Meinungsfreiheit und Toleranz sind ein Geschwisterpaar. Und „tolerieren“ heißt „aushalten“. Eine Gesellschaft, die fremdenfeindlichen Unsinn und rassistische Parolen nicht mehr aushält, begibt sich auf abschüssiges Terrain. Und wer glaubt denn bitte ernsthaft, dass sich Rassismus durch Wegwünschen, Wegschauen, Ausblenden, Unterdrücken oder durch einen Facebook-Löschknopf besiegen lässt?
Marcel Keienborg ist anderer Meinung: Er findet, dass rassistische Kommentare gelöscht werden sollten. Sein Plädoyer finden Sie hier.
- Datum
- Aktualisiert am
- 12.10.2015
- Autor
- Prof. Niko Härting