Welche Unfälle als Arbeits- und Wegeunfälle gelten, lässt sich am besten an Beispielen erklären. Nehmen wir als Beispiel den – fiktiven – Versicherungsvertreter Peter, 39 Jahre, und gehen verschiedene Szenarien durch. Lesen Sie hier, wie die Gerichte bislang zu Arbeitsunfall und Wegeunfall entschieden haben.
Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall, der sich während der Arbeit ereignet. Ein Wegeunfall passiert auf dem Weg zur oder von der Arbeit nachhause. In beiden Fällen greift die gesetzliche Unfallversicherung. Die zuständige Berufsgenossenschaft kommt dann für den Schaden auf.
Wegeunfall: Wann zahlt die Berufsgenossenschaft?
Zurück zu Peter. Es ist 9.00 Uhr am Dienstagmorgen: Peter verlässt seine kleine Parterrewohnung. Der Hund seiner Freundin will sich auch verabschieden, rennt vor der Haustür hinter ihm her – und rennt ihn um. Nichts passiert, Glück gehabt. Anders war es bei einem Fall, der im Mai 2013 vor dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt verhandelt wurde (AZ: L 6 U 12/12).
Ein Mann verletzte sich bei der stürmischen Verabschiedung durch seinen Hund am Knie. Die Berufsgenossenschaft weigerte sich, den Vorfall als Arbeitsunfall anzuerkennen und wollte nicht zahlen. Zu Unrecht, entschied das Gericht: Der Unfall habe sich auf dem unmittelbaren Weg zur Arbeit ereignet. Die Genossenschaft musste zahlen.
Wann ein Unfall am Morgen am Wegeunfall gilt, erklärt Rechtsanwältin Nathalie Oberthür von der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV): „Wenn sich morgens ein Unfall ereignet, muss es einen direkten Bezug des Weges zur Arbeit geben.“ Den haben die Richter des Landessozialgerichts in diesem Fall ausgemacht.
Beim Essen verschluckt: Unfallversicherung zahlt nicht
Anders im Fall von Peters Kollegen Michael. Die beiden treffen sich vor Arbeitsbeginn zufällig am Kiosk. Peter braucht Zigaretten, Michael ein Eis – wie jeden Morgen. Doch verschluckt er sich auf dem Weg zur Versicherung an einem hartgefrorenen Brocken. In der Rettungsstelle angekommen, erleidet Michael einen Herzinfarkt. Er war anschließend der Meinung, dass es sich um einen Arbeitsunfall handelt und die gesetzliche Unfallversicherung dafür aufkommt.
Mitnichten, wie ein Gericht unterteilen wird. Ein vergleichbarer Fall ereignete sich 2011. Auch damals entschied der Richter am Sozialgericht Berlin, dass Essen nicht zu der unfallversicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit gehöre (AZ: S 98 U 178/10).
Unfall in der Mittagspause: Kein Arbeitsunfall
Nachdem Peter einen schadenfreien Vormittag in der Konzernzentrale seines Arbeitgebers erlebte, geht er gemeinsam mit Kollegen zum Mittagessen in die Kantine. Dort angekommen, will seine Kollegin Anke ihr Tablett zu einem freien Tisch tragen – und stolpert. Linsensuppe verteilt sich über den Boden, Anke knallt auf den Boden: schwere Knieprellungen, so die später vom Arzt gestellte Diagnose.
„Die gesetzliche Unfallversicherung greift hier allerdings nicht“, erklärt Rechtsanwältin Oberthür. Wäre Anke hingegen auf dem Weg zur Kantine gestürzt, hätte sie gute Chancen, dass der Versicherungsschutz greift. Manchmal kommt es eben nur auf wenige Minuten an – oder Meter.
Unfall nach privatem Telefonieren: Unfallversicherung zahlt nicht
Am Nachmittag schaut sich Peter im Spiegel an und stellt fest: „Ich muss dringend zum Friseur.“ Da die Toilette eh neben der Terrasse liegt, nutzt er sie, um über sein Handy einen Termin zu machen. So weit, so gut und auch erlaubt. Auf dem Weg zurück zum Arbeitsplatz knickt Peter mit dem Fuß um. Etwas schmerzhaft, aber unproblematisch.
Somit hat er mehr Glück gehabt als ein Lagerarbeiter 2012: Er verletzt sich, nachdem er mit seiner Frau telefoniert hatte und an seinen Arbeitsplatz zurück wollte. Damals hat das Hessische Landessozialgericht entschieden (Urteil vom 17. September 2012 AZ: L 2 U 33/11): Ein Unfall nach einem privaten Telefonat ist kein Arbeitsunfall.
Der Entscheidung zufolge setze ein solcher Schutz voraus, dass der Unfall infolge einer versicherten Tätigkeit eintrete, also während der eigentlichen Arbeit. Persönliche Verrichtungen, wie etwa auch Essen oder Einkaufen, würden den Unfallversicherungsschutz unterbrechen.
Nur bei zeitlich und räumlich ganz geringfügigen Unterbrechungen bleibe der Versicherungsschutz bestehen. Dies sei der Fall, wenn die private Tätigkeit „im Vorbeigehen" oder „ganz nebenher" erledigt werde, wie der Richter begründete.
Unfall auf Nachhauseweg mit Umweg: Kein Wegeunfall
Nachdem Peter den ganzen Tag über mehr oder weniger glimpflich davongekommen ist, hat er auf dem Weg nach Hause einen Unfall. Er steigt in seinen Wagen, fährt aber nicht sofort in seine Wohnung, sondern macht einen Umweg über ein Möbelhaus – eine neue Kommode muss her. Rein, bezahlt, eingepackt, losgefahren.
Und dann passiert es: Blitzeis, der Wagen kommt von der Fahrbahn ab und kracht in einen Baum. Peters rechts Bein wird gequetscht, es ist gebrochen. Allerdings wird er es schwer haben, in diesem Fall als Wegeunfall geltend zu machen. In einem vergleichbaren Fall entschied ein Gericht: Da der Betriebsweg unterbrochen wurde, werde die Klage des Verunfallten abgewiesen (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29. Februar 2012, AZ: L 3 U 151/08).
Auf welchen Wegen gilt ein Unfall als Wegeunfall?
Bei der Bewertung dieses Sachverhaltes kommt es darauf an, welche Wege versichert sind.
- Wege zur und von der Arbeit
Grundsätzlich liegt ein Wegeunfall vor bei einem Unfall auf dem Weg zur Arbeit oder zurück nach Hause. Dabei kommt es darauf an, dass der Betreffende sich auf dem unmittelbaren Weg befindet. Macht er Umwege, um private Dinge zu erledigen, sind diese dann nicht versichert.
- Betriebswege
Ein unfallversicherter Betriebsweg liegt dann vor, wenn der Weg einen Nutzen für den Arbeitgeber hat, beziehungsweise eine Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllt wird. Etwa weil der Arbeitgeber möchte, dass ein Mitarbeiter etwas abholt oder wegbringt.
Davon zu trennen sind Wege, die aus privaten Gründen absolviert werden. Dabei unterbricht aber nicht jeder private Zweck sofort den Unfallversicherungsschutz. Wenn die Unterbrechung zeitlich und räumlich nur ganz geringfügig ist und „im Vorbeigehen“ und „ganz nebenher“ erledigt wird, ist die berufliche Tätigkeit nicht unterbrochen.
Unfall beim Spazierengehen am Sonntag: Unter Umständen Arbeitsunfall
Schauen wir uns nun andere Fälle an, die mit Peters Arbeitstag nicht in Zusammenhang stehen. So kann auch ein Unfall bei einem Spaziergang am Wochenende als Arbeitsunfall anerkannt werden. Das geht aus einem Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf hervor (Urteil vom 20. Juni 2017, AZ: S 6 U 545/14).
In dem Fall war ein 60-jähriger Mann während seines Spaziergangs von einem Auto angefahren worden. Daraufhin wandte er sich an die Berufsgenossenschaft und forderte, dass sie ihm Entschädigungsleistungen zahlten. Der Unfall sei während einer Rehabilitationsmaßnahme passiert. Der Mann sagt, er habe daran teilgenommen, weil er abnehmen müsse. Den Spaziergang habe er gemacht, um die Gewichtsreduktion zu unterstützen.
Das Gericht gab ihm Recht: Der Spaziergang stehe im Zusammenhang mit der Rehabilitationsmaßnahme. Dass er sonntags spazieren gegangen wäre, tue dem keinen Abbruch.
Jagdhelfer hat Unfall: Zahlt Unfallversicherung?
Ob ein Unfall als Arbeitsunfall gilt, hängt auch davon ab, ob der Verletzte wie ein Beschäftigter tätig ist. Tatsächlich beschäftigt sein muss er aber nicht. So fallen bei einer Jagd auch Jagdhelfer unter den Schutz der Unfallversicherung. Verunglückt ein Jagdhelfer bei einer Jagd, ist er gesetzlich unfallversichert.
Es liegt ein Arbeitsunfall vor, da er wie ein Beschäftigter handelt. Seine Tätigkeit hat einen wirtschaftlichem Wert, die ihrer Art nach sonst von abhängig Beschäftigten verrichtet wird, so das Hessische Sozialgericht in einer Entscheidung vom 20. Februar 2017 (AZ: L 9 U 144/16). Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des DAV informiert über das Urteil.
Ungerechtfertigte Leibesvisitation: Arbeitsunfall
Auch eine psychische Erkrankung infolge einer Liebesvisitation kann ein Arbeitsunfall sein. Erfolgte die Leibesvisitation durch die Polizei ungerechtfertigt und wegen einer beruflichen Tätigkeit, liegt ein Arbeitsunfall vor. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. Oktober 2017 (AZ: L 3 U 70/14), teilt die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des DAV mit.
Eine Frau ist für die Deutsche Bahn am Service-Point tätig. Dort gab die Bahnsteigaufsicht einen Rucksack ab. Den Inhalt dokumentierte die DB-Mitarbeiterin im Beisein eines Kollegen. Später stellten Beamte der Bundespolizei fest, dass Geld, Schmuck und eine Festplatte aus der Fundsache fehlten. Sie verdächtigen die 44-jährige Frau und nahmen sie mit auf das Polizeirevier. Dort musste sie sich komplett entkleiden und einer Leibesvisitation unterziehen. In Folge dieser ungerechtfertigten Maßnahme erkrankte die Frau psychisch.
Die Unfallversicherung lehnte eine Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Sie meinte, die polizeiliche Kontrolle sei wegen eines privaten Verhaltens der Frau erfolgt. Mit anwaltlicher Hilfe setzte sich die Frau vor Gericht gegen die Unfallversicherung durch. Das Gericht entschied, dass ein Arbeitsunfall vorliegt.
Ausschließlich wegen ihrer beruflichen Tätigkeit musste sich die Frau der ungerechtfertigten Leibesvisitation unterziehen. Sie habe ihre Tätigkeit jedoch ordnungsgemäß ausgeübt. Die ungerechtfertigten Maßnahmen der Polizei hätten bei der Frau unmittelbar zu Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und Ohnmacht geführt, so dass ein Gesundheitserstschaden vorliege.
Kurz frische Luft schnappen: Unfall kein Wegeunfall
Wenn man das Dienstgebäude nur kurz verlässt, hängt es von den Umständen ab, ob ein Unfall als Arbeitsunfall beziehungsweise Wegeunfall gilt. Dinge wie „frische Luft schnappen“ oder das Rad unterstellen sind private Gründe. Verletzt man sich dann auf dem Weg zurück zur Arbeit, liegt kein Arbeitsunfall vor. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des DAV informiert über eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 2017 (AZ: L 3 U 4821/16).
Arbeitsunfall beim versehentlichen Ausschließen
Die Mitarbeiterin einer Volkshochschule fuhr mit dem Rad zu ihrem Arbeitsplatz und stellte es im Hof ab. Während der Arbeit verließ sie das Gebäude und ging in den Hof. Sie wollte „frische Luft schnappen“, nach ihrem Fahrrad schauen und es gegebenenfalls unterstellen.
Als sie rausging, fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Sie hatte keinen Schlüssel, einen weiteren Ausgang gab es nicht. Daher versuchte die Frau, über einen zwei Meter hohen Zaun zu klettern. Dabei rutschte sie ab und verletzte sich am rechten Zeigefinger. Das oberste Glied wurde amputiert. Die gesetzliche Unfallversicherung lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Die Frau klagte.
Kein Arbeitsunfall bei Unterbrechen der Tätigkeit
Die Gerichte entschieden in zwei Instanzen, dass hier keine versicherte Tätigkeit vorlag. Es waren eigennützige Motive, die die Frau veranlasst hatten, in den Hof zu gehen. Etwas Anderes könnte sich nur dann ergeben, wenn es etwa zur Erhaltung der Arbeitskraft notwendig wäre, an die frische Luft zu gehen. Beispiel: Sicherlich werde man einem Mitarbeiter an einem Hochofen zugestehen müssen, gelegentlich an die frische Luft zu gehen.
Auch wenn die Frau mit ihrem Fahrrad gelegentlich Botengänge für ihren Arbeitgeber unternimmt, ist das Fahrrad kein Arbeitsgerät im Sinne des Gesetzes. Dies ist nur dann der Fall, wenn das Arbeitsgerät objektiv für die Verrichtung der Tätigkeit geeignet ist und hauptsächlich für die Arbeit genutzt wird. Wird das Rad genutzt, um damit zur Arbeit zu fahren, wird es grundsätzlich privat genutzt.
Tinnitus: Arbeitsunfall durch Geschrei am Arbeitsplatz?
Auch im Fall einer Erzieherin entschied das Gericht, dass kein Arbeitsunfall vorlag. Die Frau arbeitet in einem heilpädagogischen Heim. Sie sagte, der Schrei eines Kindes habe bei ihr einen Tinnitus ausgelöst.
Sie forderte von der zuständigen Unfallkasse, für die Behandlung mit einem sogenannten Tinnitusmasker aufzukommen. Das ist ein Gerät, das in den Gehörgang eingesetzt wird. Es sendet ein Rauschgeräusch und soll so den Tinnitus überdecken.
Das Sozialgericht Dortmund entschied zu Ungunsten der Erzieherin (Entscheidung vom 22. Januar 2018, AZ: S 17 U 1041/16). Ein einzelner Schrei könne keinen Tinnitus verursachen. Deshalb sei die Krankheit der Frau kein Arbeitsunfall.
Unfall auf dem Weg vom Arzt zum Betrieb: Kein Arbeitsunfall
Grundsätzlich liegt kein Arbeitsunfall vor, wenn der Arbeitnehmer nach einem knapp einstündigen Arztbesuch während der Arbeitszeit auf dem Rückweg zum Betrieb einen Verkehrsunfall hat, liegt kein Arbeitsunfall vor. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des Sozialgerichts Dortmund vom 28. Februar 2018 (AZ: S 36 U 131/17), wie die Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV mitteilt.
Etwas anderes könne sich ergeben, wenn der Arbeitnehmer von einem sogenannten dritten Ort zur Arbeit fährt, so das Gericht. Das sei hier aber auch nicht Fall. Hierfür sei es erforderlich, dass man sich mindestens zwei Stunden dort aufhalte. Der Arbeitnehmer war jedoch nur eine Stunde in der Arztpraxis gewesen.
Unfallversicherung zahlt nicht: Anwälte helfen, Ihre Ansprüche durchzusetzen
Meist sind es diese, doch oft recht speziellen Fälle, die auf dem Tisch der Sozialrichter landen. Und dafür gibt es eine einfache Erklärung, wie Rechtsanwältin Oberthür aus Köln weiß: „Die ‚Klassiker’ sind ja zumeist unstrittig sind und dort greift der Versicherungsschutz. Daher landen eher die schrägen Fälle vor Gericht.“
Soweit muss es zwar nicht kommen, doch sei es meist so, dass der Gang zur Anwältin oder zum Anwalt unumgänglich sei, sollte es zum Streit mit der Unfallversicherung kommen, sagt Oberthür: „Denn in aller Regel lassen sich die Versicherungen nicht auf eine außergerichtliche Lösung ein, wenn die Ablehnung des Versicherungsschutzes erst einmal erklärt worden ist.“
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- Datum
- Aktualisiert am
- 07.03.2019
- Autor
- red/dpa,DAV